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geschöpfte, und wo ein einfaches Wort mehr wert sein wird als ein notarieller Akt von heute . . .“ (S. 276, Anm. 9).
Selbst die mir seit langem selbstverständlich scheinende Idee der gegenseitigen Toleranz und des Nebeneinanderlebens auf sozialem und politischem Gebiet – wie dies auf anderen Gebieten längst stattfindet – fand ich einmal mit großer Konsequenz ausgearbeitet als Panarchie in dem gleichnamigen Aufsatz des Belgiers P. E. De Puydt in der Brüssler Revue trimestrielle, Juli 1860, S. 222–245.286 Er malt ganz einfach das Nebeneinanderbestehen aller Richtungen, bis zu Proudhon hin, aus, jede von ihren Anhängern unterstützt und unterhalten und sich auf diese beschränkend. – Warum sollte dies nur für soziale und politische Dinge unmöglich sein, wo es für die einst nur mit dem Scheiterhaufen für Andersdenkende operierenden Religionen, für Wissenschaft und Kunst, für tausend Dinge des täglichen Lebens längst das Selbstverständliche geworden ist, wo sogar die heutigen schärfsten Vertreter der Intoleranz, die Nationen, in großen Städten ganz ruhig nebeneinander zu leben wissen? Solange freilich Intoleranz als eine Parteitugend gilt und mit Prinzipientreue blindlings verwechselt wird, wird die Mentalität der Religions- und nationalistischen Kriege weiterhin das soziale und politische Leben vergiften. De Puydt hatte mehr gesunden Verstand als all diese Fanatiker.
So wie sich aber Brüche nur unter einen gemeinsamen Nenner bringen lassen, wenn die Eigenart jeder Zahlengröße gewahrt bleibt, so ist ein Zusammenleben nur möglich, wenn es der Eigenart jedes einzelnen hinreichende Befriedigung gewährt. Nur der mit persönlicher Freiheit Gesättigte hört auf, aggressiv zu sein; die Menschen haben nie gelernt und werden nie lernen, sich zu fügen: sie konnten und können dazu nur mit Gewalt verhalten werden und ignorieren oder sprengen diese Fesseln, sobald sie können. Trotz der autoritären Raserei unserer Zeit kann man wohl sagen, daß sich ein sehr großer Teil des Lebens in freien Formen vollzieht, die sich bewußt oder unbewußt von der Autorität entfernen.287 Hierin liegt die Sicherheit der früheren oder späteren Entfaltung der Anarchie zu ungeahnter Größe und Schönheit.
In den fünfziger Jahren vorigen Jahrhunderts hatten manche Leute besonders geringen Respekt vor dem Staat, der noch nicht seine soziale Maske angelegt hatte. Mit köstlichem Humor behandelte z. B. Charles Dickens den Regierungsapparat in dem Roman Little Dorrit (1855 bis 1857), der das Circumlocution Office (Herumredebureau; irgendein {225] Ministerium) so drastisch schildert. Man sucht bei Dickens ebensowenig eine konsequente Beibehaltung dieses Standpunkts wie bei Henrik Ibsen, dessen Briefwechsel manche sehr bewußt antistaatliche Äußerungen enthält, so wenn er an Georg Brandes schrieb: „. . . Der Staat ist der Fluch
286 Ich schrieb darüber im Berliner Sozialist, 15. März 1909. – De Puydt schrieb über Naturgeschichtliches und besonders über Gartenbau und stand, soviel ich weiß, den radikalen Bewegungen fern.
287 Bekannt ist der handgreifliche Beweis durch diejenige Form des gewerkschaftlichen Widerstandes, die zuerst in Österreich ausgebildet wurde, die Arbeit mit strikter Einhaltung aller Vorschriften, wodurch unfehlbar Verlangsamung und dann Stockung jedes Staatsbetriebes entstehen.
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